Rezensionen

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Ausstellungsbesprechung zu „INSPIRATION IST MEHR ALS EINATMEN“

Walter Angehrn zeigt, wie kulturelle Zwischennutzung im Alleingang geht. Im St.Galler Westen bespielt er mit der Schau «Inspiration ist mehr als Einatmen» facettenreich ein ungenutztes Büro.

Dorothee Haarer

Echte Überraschungen sind viel zu selten. Und wie gerne würde man gerade zu Weihnachten zumindest mal eine kleine erleben! Etwas Wohltuendes aus heiterem Himmel. Wenn sich aber Überraschungen partout nicht von selbst einstellen, kann man sich manchmal auf den Weg zu ihnen machen. Aktuell bietet sich ein Ausflug in den St.Galler Westen an. Denn dort, in Winkeln, in einem Bürogebäude im fünften Stock am Ende eines langen Ganges, wartet eine davon.

Die Überraschung kommt in Form einer Ausstellung daher. Sie trägt den Titel «Inspiration ist mehr als Einatmen» und präsentiert sich als dicht bestückte Werkschau aus 16 Jahren Künstlertum. Walter Angehrn, Jahrgang 1950, steckt als Initiant, Kurator und ausstellender Künstler dahinter. Für seine Schau hat er bewusst ein leerstehendes Büro aufgetan, um es mittels künstlerischer Zwischennutzung zweckzuentfremden.

Zurück zu den Wurzeln

Es bedeute ihm viel, sagt Angehrn, dass er gerade in diesem speziellen Gebäude ausstellen könne. Er habe bis zu dem Moment, als er sich ganz der Kunst zuwandte, als Arzt eine Praxis nur zwei Stockwerke weiter unten gehabt. «Auch hatte ich am Anfang meines künstlerischen Weges Mühe damit, dass ich früher Mediziner war. Ich dachte, man nimmt mich als Kunstschaffenden nicht ernst, wenn man weiss, dass ich lange als Arzt tätig war. Heute stehe ich da drüber und kann sagen: Beides gehört zu mir. Der Entscheid, hier auszustellen, ist ein Zeichen dafür.»

Wie sehr Walter Angehrn als Künstler «angekommen» ist, wird beim Blick durch den Raum deutlich. Mit langer Fensterfront und Backsteinwänden könnte er jeder Galerie den Rang ablaufen. Zu sehen gibt es Zeichnungen, Malereien, einige Objekte und Fotografien. Zudem zeigt der 68-Jährige zwei Textarbeiten. Eine als Holzschnitt, die andere als Neonschrift und überdies Titellieferant zur Ausstellung. Man wird fast atemlos, angesichts all dieser Werke, Formen und Ideen. Gerade, weil Angehrns Arbeiten auch einzeln stark sind. Durch die Dichte der Präsentation stehlen sich manche die Show.

Humoriges Gedankenspiel

Stark zum Beispiel sind grosse monochrome Blätter vom 2018, «Lack-Zeichnungen», wie der Künstler selbst sie nennt. Es sind Werke in gebrochenem Weiss-in-Weiss mit handgeschöpftem Büttenpapier. «Weiss ist für mich die Verdichtung aller Farben», erklärt der Künstler und weiter: «Je älter ich werde, desto mehr sehne ich mich danach.» Wer nun fürchtet, so viel Verdichtung brächte Langeweile, der irrt. Angehrn versteht es, mit lackbefüllter Spritzkanne Zeichnungen aufs Papier zu «giessen» und so repetitive und ausdrucksstarke Linien und Formen zu erschaffen. Für den Betrachter ist das spannend, denn er kann das Auge zwischen den ruhigen Strukturen solcher Bilder wandern lassen.

Weniger Ruhe, dafür eine Prise Selbstironie birgt ein Holzschnitt als Text. «Kunstschaffen ist ein -Traum/Scheiss- Job. Zutreffendes bitte ankreuzen», steht darin. Auch diese Arbeit ist neu. Der Künstler betreibt hier persönliche Standortbestimmung und humoriges Gedankenspiel. Und stösst bei Laien wie Kunstschaffenden eigene Überlegungen an. So wird diese Schau zum lebenden Beweis, dass «Inspiration mehr als Einatmen» ist, und zu einem fülligen Einblick in ein anregendes Gesamtwerk – als überraschendes Kunsterlebnis an unvermutetem Ort.

Ausstellungsbesprechung „Nachdenklichkeiten“

Ausstellungsbesprechung „Nachdenklichkeiten“ 2016
im St. Galler Tagblatt vom 20.10.2016:

 Aufzehrung aller Farben

Drei Monate ist es her, seit der Lyriker und Zeichner Werner Lutz, ein gebürtiger Ostschweizer auch er, im Alter von 85 Jahren gestorben ist. Und noch einmal drei Monate weiter zurück zählt Walter Angehrn, als er Lutz an seinem Wohnort in Basel besuchte und mit ihm einen Tag lang über Gott und die Welt sprach.Da hätte man ja nicht ungern gelauscht im Wissen darum, dass bei beiden Künstlern jeder Gedanke, jeder Strich im Fluss der gelebten Zeit und immer im Bezug zur je eigenen Lebenswirklichkeit steht. Erst nach Lutz‘ Tod stiess Walter Angehrn auf dessen Gedicht, das er seiner Ausstellung voranstellt: «Eine Nachdenklichkeit/auf japanische Art glänzendschwarz lackiert/dass die verschiedensten Dunkelheiten/sich spiegeln darin». Es gibt noch andere Parallelen zwischen Lutz und Angehrn. Beide sind Spätberufene. Werner Lutz, den sein Verleger fast geisseln musste, dass er etwas zur Erstveröffentlichung freigab, war fast 50, als der Titel «Ich brauche dieses Leben» bei Suhrkamp erschien. Angehrn (66) gab im Alter von fast 60 Jahren seinen Beruf als Hausarzt auf und wandte sich ganz der Malerei zu. Sein Kunstbuch mit dem Titel «Land Marks» wurde diesen September mit dem German Design Award ausgezeichnet. Gestaltet hat das Werk das Büro TGG in St. Gallen.

(…) Für seine aktuelle Ausstellung mietete Angehrn – und er hat dies in anderen Räumlichkeiten mehrmals getan – einen vorübergehend leerstehenden Industrieraum. Grösse: 700 Quadratmeter. Die unkonventionelle Art, wie er seine Kunst ans Licht holt und die ungeschriebenen Gesetze von Museen und deren Scouts, den Galeristen, umschifft, könnte durchaus Schule machen. (…)

«Verschiedenste Dunkelheiten» spiegeln sich gleich beim Eingang in den ersten drei grossformatigen Werken. Aus einer glänzenden Teerschicht, aufgebaut auf Acryl, schimmert schemenhaft, und fast nur durch den sich spiegelnden Glanz des Tageslichts erkennbar, da ein Labyrinth, dort ein Buch. Zeichenhaft, er-innert, vernarbt. Anspielungsfelder für «Nachdenklichkeiten». Sie ziehen sich durch den riesigen Raum als oft monochrome Werke, die leuchtende Dunkelheit – auch im Spannungsfeld von Weiss – ist allgegenwärtig.

Der mystische Sufi-Dichter Rumi schrieb einmal, Schwarz sei die «Aufzehrung aller Farben», der Zustand der Seligkeit, in dem sich das Göttliche offenbare. Dies wäre dann auch jene ahnungsvolle Erneuerung – in der fruchtbaren Krume des überschwemmten Flussdeltas, in den dunklen Bezirken von Heilung und Initiation. An den Mythos der Kartage lehnt sich der 50 Schritte lange «Giebel» aus Aluminium, der den Raum – und die Patina des Fussbodens – in zwei Hälften teilt. 137 A4-Blätter trägt das Objekt, Graphit auf Weiss, gezeichnet in einem dreistündigen Atemzug an einem Gründonnerstag. Schwerelose, karge, tastende Splitter, deren aufgerauhte Kanten in Walter Angehrns Spurensuche münden, den Raum – die Halle – mit «Nachdenklichkeiten» bespielen und alles Lärmige und jedes Dogma dekonstruieren.

Brigitte Schmid-Gugler im St. Galler Tagblatt vom 20.10.2016

Ausstellung Nachdenklichkeiten

Einführende Worte von
Dr. Monika Jagfeld, Direktorin open art museum, St. Gallen

„Nachdenklichkeiten“ – so der Titel der Ausstellung – sind ein komplexer Vorgang, der verlangt, vertieft über Walter Angehrn und sein Werk nachzudenken. 

Wann immer ich Arbeiten Walter Angehrns begegnet bin, war ich beeindruckt von seiner Konsequenz. Und ich erinnere mich noch gut an die erste Begegnung, als wir bei Freunden die Edition seiner Reflexionen zur Kantate von Johann Sebastian Bach „Ich hatte viel Bekümmernis…“ (2009) sahen. Es folgten weitere Begegnungen in den Ausstellungen „Zwischen den Jahren“ (2012/13) und „land marks“ (2014). 

Sie kennen das, man sieht etwas, und es brennt sich ein. So ergeht es mir bei Begegnungen mit Walter Angehrns Kunst.

Immer wieder habe ich mich gefragt, was den Arzt zur Kunst – besser: zur Erschaffung von Kunst – gebracht hat. Man könnte diese Frage übergehen, weil die Entscheidung längst vollzogen ist – und von Walter Angehrn selbst vielleicht gar nicht mehr gern gehört wird? Mir scheint sie dennoch relevant für sein künstlerisches Arbeiten. Ich glaube, dass er seine spezifische Art der Herangehensweise, sich zutiefst ernsthaft einer Frage zu stellender Analyse einer Situation, der Suche, ein Problem zu lösen, verlagert hat vom Gegenüber hin zur Befragung des Inneren seiner selbst.

Hier werden Farben und auch Bildträger in ihrer unterschiedlichen Materialität studiert, ihre Reaktionen miteinander untersucht, mit verschiedenen Farbaufträgen gespielt von transparent lasierend bis zu pastosen, dicken Farbschichten. 

Mal wird die Geste eines Striches betont und die Bewegung des Künstlers sichtbar, dann wieder stehen wir einer Fläche gegenüber, die den Eingriff des Künstlers scheinbar leugnet. Sie behauptet sich in einer Selbstverständlichkeit, als sei sie schon immer dagewesen, als könne sie nur so existieren.

Das abgeschlossene Werk bei Walter Angehrn verkörpert eine Präsenz, die wie nicht mehr zu hinterfragen ist. Dabei ist jedes Werk der Abschluss eines Prozesses, welches Material in welcher Form in welcher Erscheinung für welchen Ausdruck nicht nur geeignet ist, sondern die einzige Möglichkeit.

Die Pianistin Ute Gareis hat einmal sehr schön den Unterschied benannt, was es bedeutet, ein Klavierstück zu „spielen“ oder es so internalisiert zu haben, dass sie die Musik „atmet“.

Ein Werk „atmen“! An ihm arbeiten, es denken, bis man es atmet, führt dahin, dass der Künstler es gänzlich verinnerlicht hat und sein eigenes Innerstes darin zur Erscheinung bringt. Es führt dahin, dass das Werk selbst den Atem des Künstlers in sich trägt. Das zeichnet das Werk von Walter Angehrn aus. Bei aller Abstraktion ist es ein sehr persönliches Werk und die Betrachtung seiner Ausstellung ein intimes Zwiegespräch.

Es überrascht daher nicht, dass seine Arbeiten oft eine meditative Kraft ausstrahlen. Betrachte ich sie, denke ich auch an Kalligrafie. Der Kalligrafie-Künstler sammelt sich in einer Meditation, bis zu dem einen Moment, in dem er den Pinsel im richtigen Winkel mit der richtigen Menge Tusche angereichert, mit dem richtigen Druck auf das richtige Papier (…) aufsetzt und den Strich im richtigen Schwung ausführt (…). Der Akt des Sich-Sammelns und des Sich-Versenkens ist dabei ebenso Bestandteil des Werkes wie das gesetzte Zeichen selbst. So verstehe ich auch die künstlerischen „Nachdenklichkeiten“ von Walter Angehrn.

Der mentalen Konzentration entspricht die formale Reduktion. Folgerichtig arbeitet Walter Angehrn in Werkgruppen, die unterschiedliche Entwicklungen eines Denk- und Arbeitsprozesses aufzeigen.

Die lange, den Raum durchquerende Bahn der ausgelegten Zeichnungen betont das Prozesshafte einer Annäherung. Entstanden ist eine Serie von 137 Zeichnungen am Gründonnerstag 2010, rauschhaft in 3 Stunden. Sie mag den Weg der Nachdenklichkeiten verkörpern, den Walter Angehrn beschreitet, bis ein Werk geatmet ist. 

Seine aktuelle Ausstellung trägt diesen poetischen Titel „Nachdenklichkeiten“. Schon über diesen Begriff und über seine Bedeutungsebenen muss man „nachdenken“.Nachdenklichkeiten begreife ich als vorübergehende, sich verflüchtigende Prozesse, von denen jedoch immer eine Essenz des Empfindens, eine Erkenntnis zurückbleibt. Die Arbeiten, die Walter Angehrn hier präsentiert, verkörpern diese Essenz. Sie sind wie eingefrorene Momente einer vertieften Erkenntnis, sie sind das materialisierte Konzentrat jener flüchtigen Nachdenklichkeiten.

Konzentrat heisst Konzentration: Die Arbeiten sind monochrom auf einen Farbton konzentriert oder auf den Dialog weniger Farbtöne. Sie sind reduziert auf wenige Formen und Bewegungen. Dabei zeigen sie raue, brüchige Oberflächen gegenüber glatten, glänzenden. Sie sind aufgebaut aus verschiedenen Farbschichten auf Untergründen von Papier, Leinwand oder auch Metall.

Konzentration weist schon der Farbkanon dieser Ausstellung auf, in der Schwarz – insbesondere das Schwarz! – und Weiss dominieren. Dazwischen Grau und wenige farbige Arbeiten.

In der Einladung finden wir ein Gedicht von Werner Lutz zitiert:


Eine Nachdenklichkeit

auf japanische Art glänzendschwarz lackiert

dass die verschiedensten Dunkelheiten

sich spiegeln darin.


Walter Angehrns Werke
 evozieren Zustände. Wenn ich Ihnen sage, dass eines seiner Bilder in Weiss für mich den Himmel verkörpert, möchte ich Sie nicht anleiten, zum Fenster herauszuschauen, um anschliessend vergleichsweise im Bild nach Wolkenformationen zu suchen. Es geht nicht um Abbilder. Sondern ich meine, dass dieses Bild ein Empfinden auslöst, das dem Zustand Himmel und seiner Unendlichkeit entspricht. Und wir müssen uns dabei bewusst sein, dass Worte lediglich Beschreibungen sind, mit denen wir Phänomene zu erfassen suchen.

Ja, Walter Angehrns Arbeiten sind – so malerisch er auch in ihnen wird – weniger „Malerei“ als Phänomene in Weiss, Schwarz oder Buntfarbe.

Schwarz und Weiss stehen im Fokus seiner neuen Arbeiten. Schon diese Farbwahl steht für die genannte Konzentration, mehr noch: für Absolutheit. 

Weiss = die Zusammenführung aller SpektralfarbenWeiss = das Licht

Schwarz = die Abwesenheit aller Farben? Sehen wir im Schwarz dennoch einen Farbkörper oder einen Farbraum oder das schwarze Loch? Die Absorption, das Nichts? Und im Weiss die Vollkommenheit?

Tatsächlich sind die Werke nicht einfach weiss oder schwarz, sie spiegeln eben die„verschiedensten Dunkelheiten“ – und Helligkeiten. Sie weisen kaum sichtbare Spuren und eingeschriebene Zeichen auf, sie zeigen Schattierungen, Bewegungsverläufe oder weisen eine Richtung

Sie zeigen unterschiedliche Beschaffenheiten von Schwarz und Weiss. Offenes, poröses Farbmaterial schluckt das Licht, eine geschlossene glänzende Farboberfläche wie Lack reflektiert das Licht und erzeugt helle Glanzpunkte im Schwarz. So erscheint Schwarz einmal satt und warm, einmal kühl und abweisendJe nach Lichteinfall wirkt es bräunlich, gräulich, bläulich oder grünlich. 

Im mit Furchen durchzogenen Weiss hingegen befinden sich dunkle Schattenpartien.

Das Unbestimmte ist ein wichtiges Moment im Werk von Walter Angehrn. Farbmaterial besitzt einerseits eine gewichtige Präsenz und kann sich andererseits zugleich verflüchtigen. Verschiedene Texturen vermitteln verschiedene Helligkeitswerte wie Dunkelheiten von Farbtönen. Unterschiedliche Formen verlocken zu Assoziationen, ohne dass sie sich definitiv bestimmen liessen. Zeichen sind selten klar formulierte Aussagen, sondern lediglich zeichenhaft eingeschrieben, manchmal so zart, dass sie kaum zu erfassen sind. Sie sind anwesend, aber nicht immer lesbar. Sie sind der Subtext, der mitschwingt, auch wenn wir ihn nicht sehen.

 (…)Das Bild schafft einen Körper wie einen Raum und gerät zu einer neuen Realität. Mit seinen Bild-Räumen agiert Walter Angehrn als Körper im uns umgebenden Raum, dies zeigen insbesondere seine Ausstellungen. Die Ausstellung ist nicht einfach eine Werkpräsentation, sondern sie ist eine Intervention im Raum. Schon die Auswahl seiner Ausstellungsräume ist speziell. Es ist nicht der neutrale White Cube, sondern es sind Hallen, die einer anderen Funktion entnommen sind und selbst ein Eigenleben besitzen. Sie zeigen Spuren des Gebrauchs, die sich in Wände, Decke und Boden eingeschrieben haben und die mit den Exponaten in einen Dialog treten.

Walter Angehrn lässt sich nicht festschreiben auf ein Thema, auf ein Medium, auf eine Technik. Er analysiert und experimentiert, er sammelt – sich – und führt dann aus. Höchst konzentriert. Wenn eine Werkgruppe beisammen ist, zeigt er sie und lässt uns Anteil nehmen an seinen in sich gesammelten, nun materialisierten „Nachdenklichkeiten“.
Sie lassen uns seinen Atem spüren.


Dr. Monika Jagfeld, Leiterin Museum im Lagerhaus, Stiftung für schweizerische naive Kunst und art brut, 9000 St. Gallen

Ausstellungsbesprechung „ZWISCHEN DEN JAHREN“

„ZWISCHEN DEN JAHREN“

Ausstellungsbesprechung im St. Galler Tagblatt vom 07.01.2013

Man könnte meinen, der Schriftsteller Werner Lutz habe mit folgender Zeile auf die Ausstellung von Walter Angehrn reagiert: «Wer Stille betreten will, zieht besser die Schuhe aus», schreibt Lutz im Gedichtband «Bleistiftgespinste». Stille lotet die Ausstellung «Zwischen den Jahren» aus – und Zwischen-Räume. Nach vier Jahren Stille meldet sich Walter Angehrn mit neuer Kunst zurück. Es sind Arbeiten, die Felder der Versenkung und des Innehaltens abgrenzen und definieren. Angehrn geht von sogenannten Schüttelfotos aus, von nicht gesteuert oder kontrolliert eingefangenen schnellen Bildern, die kürzeste Augenblicke bannen, jedem Kalkül entzogen. Diese Fotografien (alle Unikate) strahlen Poesie, Weite, Offenheit, ja Geheimnis aus. Und doch würden sie sich alleine noch nicht genügen. Das spürt der Künstler Walter Angehrn mit grosser Sensibilität und hat sozusagen in die Fotografien hineingelauscht, auf ihren Ruf gehört, auf ihre Fragen reagiert.

Und er antwortet mit klaren Formen, strengen Strukturen, mit präziser und überlegter Malerei, die das gesamte Ensemble erst in die genaue Balance heben. Und erst im spannungsvollen Dialog zwischen lyrischem Digitalbild und strenger Gegenform entsteht das Dritte, der Zwischen-Raum, das Schwebende dieser Arbeiten, die jede für sich in ihren Bann zu ziehen vermögen. Geht es in den Fotografien um kurz zitierte Bewegungen, gibt die dazugehörende Malerei Halt und Stabilität. Die Arbeiten sind sehr ästhetisch gedacht, auf jedes Detail hat sich der Künstler konzentriert.

Und bei den Gegenpolen zur Fotografie findet Walter Angehrn vielfältige Lösungen. (…) Sein Umgang mit den Materialien, die das Fotografierte wie zu «erden» scheinen, ist durchdacht; keine genaue Kante, keine bewusste Faltung, keine Pinselstrichrichtung gibt es da, die nicht auf ein Detail in der jeweils dazugehörenden Fotografie reagieren würde. Bei aller Schönheit ist da nichts süsslich oder grell, aber alles stets absichtsvoll feinsinnig.

«Zwischen den Jahren», das sind ausgemessene Ruhefelder von feiner Schwebe. Alles Laute scheint diese Arbeiten zu stören. Weit auseinander gehängt sind sie in der für diese Schau bestens geeigneten Geschäftsetage. Diese Bilder stehen jedes für sich und dürfen sich nicht zu nahe kommen. «Eifersüchtig» würden sie ihren Platz behaupten, sagt der Künstler und nennt eines seiner Werke – durchaus unironisch gemeint – gar eine «Diva».

Martin Preisser

„Artist in residence“ – Artikel in der New York Times

New York Times  –  Ausgabe vom 9.Juli 2009

Artikel über den Aufenthalt als „artist in residence“ in North Carolina, Mai 2009

http://www.nytimes.com/2009/07/09/garden/09location.html?ref=garden

Ausstellungsbesprechung „Ich hatte viel Bekümmernis …“

Aus Berührtsein werden Zeichen


„Ich hatte viel Bekümmernis in meinem Herzen, aber deine Tröstungen erquicken meine Seele“.

So beginnt Johann Sebastian Bachs Kantate BWV 21. (…)

Das Dunkle aushalten
Im Hellen ist immer auch das Dunkle und umgekehrt, auch das sagt Bach in dieser geistlichen Musik. Walter Angehrn stellt sich dieser gegenseitigen Bedingtheit in seiner bildnerischen Reflexion deutlich spürbar. „Wir haben die Tendenz, Hell und Dunkel zu spalten, das Dunkle herauszuhalten“, sagt er und tut dies in seinen hochformatigen Bildern eben gerade nicht.
Nie ist auf den Arbeiten besänftigendes Weiss einfach weiss, oft muss es das Dunkle daneben und darüber aushalten. Der Künstler hat für die Kantaten-Texte, die er –den Widerstand der Tuschefeder nicht verbergend– manchmal in beinahe eruptivem Duktus erst einmal aufs Papier setzt, sein eigenes, archaisch reduziertes „Alphabet“ gefunden. Er setzt seine Zeichensprache klar, bewusst und doch in erster Linie voll Behutsamkeit, durch die Zeichen vorrangig seiner Ergriffenheit von Bachs Musik und des Dichters Text den gebührenden Raum einräumen wollend. (…)

Glück und Verzagtheit
Zart und im sorgfältigen Nicht-Zuviel nähert er sich bildnerisch seinem Thema, das eine Bach-Kantate ist, aber –gesehen in diesen Zeichen– vor allem auch Bild widerstrebenden Lebensgefühls zwischen Glück und Verzagtheit, zwischen Hinwendung und Rückzug, Bewegung und Stillstand. Aus diesen Gegensatzpaaren schimmert unter Walter Angehrns Strichen eine feine, nachdenkliche, neue Lebendigkeit als Ergebnis stimmigen Jetzt-Beruhigt-Seins des Künstlers hervor. Den faszinierenden Gegenpol zu diesen 28 symbolhaften Ideen, die musikalische wie spirituelle Räume einfangen wollen, bilden kraftvolle Farbpigmente auf Packpapier unter den Tuschezeichnungen. Fast wie an einem Geländer kann man sich als Betrachter an ihnen „festhalten“.

Kunst der Transformation
Die rot, schwarz und ocker dominierenden Farbfelder sind Gegengewichte, stützen das Verletzliche der Zeichnungen ab. (…)
Zeichnung oben, Farbfeld unten: In allen Bildstationen beziehen sie sich beide aus innerer Bewegtheit des Zeichners und Malers aufeinander, kommentieren sich, kann ihr Duktus zueinander oder auseinander streben.
Walter Angehrns Zyklus ist deutlich mehr als blosse Illustration der Musik. Er ist das Ergebnis eines Berührtseins von der Vorlage, die aber in ihrer gelungenen Transformation zu etwas Neuem wird, was über Bach und den Kantatentext hinausgeht: Der Bilderzyklus wird zu einer Meditationsstrecke über das erwähnte Gesetz des Hellen im Dunklen und des Dunklen im Hellen, das das Leben –richtig verstanden– bestimmt.

Vorsicht und Genauigkeit
Walter Angehrns neue Bilder verraten den sensiblen, feinsinnigen Künstler, der sein inneres Berührtsein aber auch in eine genaue, in richtiger Vorsicht andeutende und daher eben nicht plakative oder auf vordergründige Emotionalität setzende Zeichensprache hineinfliessen hat lassen.
Es ist Walter Angehrns erste Ausstellung nach seinem endgültigen Abschied vom Arztberuf, ein erstes Resultat eines wahrscheinlich nicht immer einfachen und durchaus errungenen Aufbruchs in die Welt der Kunst.

„Etwas Suchendes“
Seit er sich ausschliesslich der Kunst widme, habe das Malen das Heitere verloren, gesteht Walter Angehrn. (…) „Etwas Suchendes begleitet mein Leben“. Diese faszinierende Zeichensprache als Resultat gerade dieses suchenden Aufspürens eigener Berührtheit (die dem Betrachter Raum gibt) ist es, welche in dieser Ausstellung zusätzlich, aber auch jenseits musikalischer und textlicher Transformation „berührt“.


Der Kulturjournalist und Musiker Martin Preisser zur Ausstellung „Ich hatte viel Bekümmernis …“ im St. Galler Tagblatt vom 26.2.2009

Ausstellungsbesprechung „Inside – out“

Aussen- und Innenwelten

In seiner vertraut unaufgeregten „Zeichensprache“ erzählt der St.Galler Künstler Walter Angehrn vom Verwischen der Grenzen zwischen Innen und Aussen.
„Inside-out“ bespielt Raum und Zeit.

(…)
Ein Zerreissbuch
Fast scheu scheint die Hand das grosse Weiss zu „beflecken“. Der Reinheit entrissen, wird es zur Unterlage, zur Basis, schliesslich zum metaphysischen Raum für ein (un-)sichtbares In-Bewegung-Kommen. Graphit und Oelkreide beschreiben seelsiche Befindlichkeiten von Macher und Betrachtenden. Man muss unweigerlich an den kleinen Prinzen denken und auch an eine spontan agierende Kinderhand. Zeichne mir einen Mond und wenn er dann leuchtet in seiner zögerlichen Rundung, ist’s einem, als läge in der darüber gelegten gelblich schimmernden Graphit-Schraffur die ganze Nacht in Brokat.
(…)

Räume ausleuchten
Ruhender Kokon und wirbelnde Fliegenbeine im Kopf. Stockendes und fliessendes „Einkreiden“. Aushalten den kratzenden Summton im Zwerchfell, und die verursachten Risse im Trauergarn flicken. Der anschwellenden Mehrstimmigkeit in ihrer ausbrechenden Heftigkeit folgen.
Als Antwort auf diese inneren Zwiegespräche legen sich ausgefranste Schatten auf die Linien. Doch das Spiel in Variationen verweigert sich der Zuordnung. (…) Das weiche Timbre legt sich auf den Schein der „Laterna magica“. (…) Angezündet wirft die Zauberlaterne ihr Licht auf die stillen Betrachtungen des Künstlers, der in und um sich ein- und ausräumt, entrümpelt und ordnet und bei jedem neuen Versuch ahnt, dass die Un-Ordnung seiner Handschrift bester Meister ist.
Martin Heidegger fragt in seinem Text „Die Kunst und der Raum“ danach, was mit Räumen -bewohnten und unbewohnten- geschehe und schreibt: „(…) zum andern bereitet das Einräumen den Dingen die Möglichkeit, an ihr jeweiliges Wohin und aus diesem her zueinander zu gehören“.

Die Kultur-Journalistin Brigitte Schmid-Gugler im St. Galler Tagblatt vom 15.Januar 2007 zur Ausstellung „Inside–out“

Einführende Worte zu „Ifang“ – 2005

„Ifang“

(…)

Die zunehmende künstlerische und mentale Intensität und die Suche nach dem
persönlichen Ausdruck führten im Verlauf der letzten Jahre zwangsläufig zur
Steigerung der künstlerischen Tätigkeit und auch der Ambitionen. (…) Die Werke
sind nicht nur umfangreicher, sondern auch immer professioneller geworden.
Sie drängen nach Aussen, verlangen nach Oeffentlichkeit und Auseinandersetzung
mit dem Publikum. (…)

Zwei Dinge stechen bei diesen Arbeiten als Erstes ins Auge: der absolute Wille
zur Reduktion und die Dialektik des Ausdrucks. Die Graphitzeichnungen aus dem
Unterengadin kommen mit ganz wenig bis fast nichts aus. Nicht Nachahmung und
Detailtreue bestimmen den sparsamen Strich, vielmehr der Versuch, das Wesen der Landschaft mit wenigen Zeichen einzufangen.
Eine irritierende Dialektik kommt in der siebenteiligen Arbeit „Ifang“ zum Ausdruck. Das Motiv der Einzäunung, der Umfriedung, wie es im Alpenraum das Wiesland prägt, das dem felsigen Boden abgerungen wurde, taucht in den Zeichnungen verschiedentlich auf. In der grossangelegten Arbeit „Ifang“ ist es zentral. Die mit Graphit und Pigment bearbeiteten kreidegrundigen Papiere wachsen zu „Seelenlandschaften“ aus, die in ihrer Verletzlicheit nach Schutz verlangen. Die darüber gelegten Wellplatten aus bläulichem Acrylstoff wecken instinktiv den Widerstand des Betrachters, stehen mit ihrer optisch verminderten Durchlässigkeit doch in offenkundigem Widerspruch zu den Feinheiten der darunter liegenden Zeichnungen. Das Sensibelste wird durch das Unsensibelste bedeckt, geschützt, verborgen oder erst recht dem forschenden Auge des Betrachters anheimgestellt. Die Dialektik des Versteckens und Enthüllens ist jedenfalls auf die Spitze getrieben. (…)
Walter Angehrn (…) empfinde ich als „Lyriker mit dem Graphitstift“.

Die Kunsthistorikerin Dr. Elisabeth Keller-Schweizer zur Eröffnung der Ausstellung „Ifang“, Mai 2005

Einführende Wort zu „Zeigen? Zeigen! Zeigen.“ _ 2005

Zeigen? – Zeigen! – Zeigen.

(…)
Was soll nun diese „Zeigen“, in der Einladung, wie im Märchen dreimal wiederholt, mit je einem anderen Satzzeichen? Zeigen wird nur in einer Beziehung zu einem Menschen, zu sich selbst oder zu einer Sache sinnvoll. Zeigen ohne inneres oder äusseres Gegenüber ist unmöglich. Begonnen hat dieses „Zeigen“ als gute und sinnvolle Idee, die eigenen Bilder nicht geheimniskrämerisch vorzuenthalten. Ein weiterer Aspekt, der „Zeigen“ charakterisiert: Zeigen entlarvt. (…) Und so geschah es dass es mit einem Ausrufezeichen versehen werden musste. (…) Gärt nicht die Seele noch vor sich hin und weigert sich erst einmal, sich gleich zu offenbaren? Haben wir es doch mit etwas zu tun, das Edgar Allan Poe einmal so beschrieben hat: „Kunst ist die Betrachtung der Phänomene durch den Schleier der Seele.“ (…)
Zeigen ist -wie bereits gesagt- eigentlich immer nur in einer Begegnung möglich. Wenn Begegnungen stattfinden, dann immer in Räumen; in Innenräumen, in Aussenräumen, in innerseelischen, in zwischenmenschlichen, in realen und symbolischen. Zu einem Raum gehört immer auch eine Grenze, auf der sich Innen und Aussen vermischen. (…)
Zurückbleiben wird hoffentlich, was uns über eure Bilder zwischen Innen und Aussen berührt. Spuren dieser Erzählungen aus dem Zwischenbergtal, die ein Gefühl des eigenen Lebendigseins hinterlassen. In diesem Sinne werden wir nun -um mit Ingeborg Bachmann zu schliessen- „aus der Verzauberung entlassen, mit dem Geschmack für die Wirklichkeit“.


Der Psychotherapeut Andreas Wöhrle zur Eröffnung der Ausstellung „Zeigen? – Zeigen! – Zeigen.“ 2005